27.
Januar
2020

Der schrecklichste Tag in meinem Leben!

Verfasst von Dietmar Wodtke

Ich war Projektleiter in einem kleinen Fertigungsbetrieb in der Nähe von Köln.

Mit einem extra zusammengestellten Team hatte ich die Aufgabe, eine Fertigungslinie bei laufender Produktion zu modernisieren. Am Ende eines jeden Tages musste die Anlage für die kommende Frühschicht wieder produktionsbereit sein. Wir nutzten die Mittagschicht oft bis spät in die Nachtstunden.

An einem Abend, wir lagen gut in der Zeit, kam Michael zu mir und sagte, die Lichtschranke am Kettenförderer reagiere nicht. Wir besprachen gerade die Aufgaben für unsere nächste Schicht - es fehlten noch einige Teile - und jetzt noch so etwas! Ich ging mit zur Anlage. Paul, der Elektriker, sagte, das Modul sei wahrscheinlich defekt, denn ohne, dass jemand in die Lichtschranke kommt, wird der Kettenförderer ständig angehalten. 21:00 Uhr, noch eine Stunde bis Schichtende. Ich sagte, dass wir noch Ersatz vom alten Förderer hätten, und bat ihn darum, diesen erstmal einzubauen. 21:30 Uhr, geschafft, die Anlage läuft ohne Stopp. Ein Glück, alles andere wäre für die Frühschicht fatal gewesen und hätte nur Ausschuss für die Produktion bedeutet. Doch dann wieder Stopp.

„Vielleicht liegt es nicht an der Lichtschranke?“ überlegte ich. Ich ließ besagtes Modul ausbauen und die Lichtschranke ohne weiterlaufen. Die Anlage läuft, kein Stopp. Zwischenzeitlich wurde schon ein neues Modul bestellt, es sollte am folgenden Tag gegen 13:00 Uhr kommen. Ich dachte: „Aber die Frühschicht, 30 Leute nach Hause schicken? Katastrophe!“ 22:00 Uhr, Schichtende, wieder Überstunden. Dann die Entscheidung: Wir spannen anstatt der Lichtschranke eine Kette. So war es früher auch und es ist nie etwas passiert. Die Kette war schnell gefunden und der Gefahrenbereich abgesperrt.

22:30 Uhr, geschafft. Ich konnte mein Team in den wohlverdienten Feierabend schicken und habe noch schnell im Übergabebuch vermerkt, dass besondere Vorsicht geboten ist, damit keiner in den Kettenförderer kommt. 22:50 Uhr, auch ich kann Feierabend machen. Auf dem Weg begegnete ich noch dem Wachdienst: „Na, wieder länger gemacht?“ „Wie immer“, sagte ich, „aber es ist ja für eine gute Sache.“ „Na klar“, entgegnete er. Selbst der Wachmann wusste, wir können uns keinen Produktionsausfall leisten und bis zum Schichtbeginn 06:00 Uhr muss die Anlage immer betriebsbereit sein. Ich beschloss für mich, und schrieb es auch ins Schichtbuch, am nächsten Tag schon gegen 11:00 Uhr zu kommen und mich eindringlich um das Modul für die Lichtschranke zu kümmern.

23:45 Uhr hatte mein kleines Zimmer in der beschaulichen Pension erreicht. Ich machte noch einige Notizen für die Aufgaben meines Teams am kommenden Tag, denn ich hatte ja ganz aus den Augen verloren, dass noch einige weitere Teile fehlten. 00:30 Uhr, aber jetzt Schluss, mir fielen schon die Augen zu und wieder mit dem Kopf auf der Tastatur wollte ich nicht aufwachen.

06:45 Uhr, ich hörte Sirenen eines Krankenwagens oder der Polizei? Keine Ahnung, irgendwie wurde mir aber mulmig, ich konnte schon wieder nicht mehr schlafen, mir ging alles Mögliche durch den Kopf: „Bekomme ich die Teile bis mittags, haben alle an die Kette gedacht und waren auch vorsichtig?“

Mein Handy klingelte: „Herr Klangkowski, wir hatten einen schweren Arbeitsunfall, die Polizei ist da und fragt nach einem Verantwortlichen“. Ich fragte, wo denn unser Geschäftsführer Herr Oswald  sei. „Ach ja, noch in Frankfurt zur Messe“, fällt es mir ein. „Ich komme“ sagte ich und dachte: „Hoffentlich ist nichts am Kettenförderer passiert! Die Kette!“

Ich komme im Betrieb an. Zwei Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr mit Blaulicht sind vor Ort, einige Kollegen am Sammelpunkt sind damit beschäftigt, Platz für einen Hubschrauber zu machen. Lautes Gedröhn, ein Feuerwehrmann ruft mir zu: „Sie sind der Verantwortliche, ja? Eine junge Frau ist in den Förderer geraten und wir können sie nicht befreien. Sie ist eingeklemmt. Der Förderer muss rückwärts gefahren werden, aber er schaltet immer wieder ab!“

In der Halle hörte man die junge Frau schreien.

Dann ruft ein Feuerwehrmann: „Wir haben sie. Wir haben es mit einer Winde und einer Spreize geschafft“.

Ein Hauptwachtmeister Klimmt stellt sich mir vor und fragt: „Sind Sie der Verantwortliche?“ Ich frage ihn: „Wofür?“ Er entgegnet mir: „Na für den Betrieb, für den Arbeitsunfall.“ Ich sage: „Ja.“

Hauptwachtmeister Klimmt sagt: „Sie müssen alle Beschäftigten bitten, die Produktionshalle zu verlassen, die Sanitäter und wir können unsere Arbeit nicht machen! Immer will jemand helfen, aber das behindert uns nur.“ Ich bitte alle in die Pausenräume zu gehen und abzuwarten. Lautes Gedröhn, der Hubschrauber startet. Ich frage ihn, was mit unserer Kollegin ist. „Lebensgefährlich verletzt“, sagt der Hauptwachtmeister. Ich gehe zum Förderer. „Halt, polizeilich abgesperrt!“, hallt es. Ich sehe das Blut unter der Anlage. „Sie dürfen den Bereich nicht betreten“, erklärt mir der Hauptwachtmeister. „Aber ich bin doch der Verantwortliche“, entgegne ich ihm. „Eben“, erwidert der Hauptwachtmeister. Er fragt mich, ob ich der Geschäftsführer bin. „Nein, der Geschäftsführer ist zur Messe, ich bin Projektleiter“, sage ich. „Ihren Personalausweis, bitte. Sie sind doch jetzt der Hauptverantwortliche hier, oder?“ Ich erwidere: „Naja, schon.“ Er sagt: „Da wo die Kette auf dem Boden liegt, ist…“ Wir werden unterbrochen. „Guten Tag, Hauptkommissarin Schröder, Kripo Köln, mein Kollege Kleinhaus. Sie sind der Verantwortliche hier?“ Ich erwidere: „Nein. Ja. Mein Geschäftsführer ist zur Messe, ich bin Projektleiter.“ Die Hauptkommissarin bittet um meine Personalien. Der Hauptwachtmeister gibt ihr meinen Ausweis. Ich werde gerufen, der Geschäftsführer ist am Telefon. „Sie bleiben bitte hier“, sagt der Herr von der Kripo zu mir. Die Kommissarin fragt mich, wie das geschehen konnte. Ich antworte:  „Ich weiß es nicht, ich konnte noch niemand sprechen.“ „Sie sind doch aber der Verantwortliche hier und sollten über die Geschehnisse Bescheid wissen“, erwidert sie. Ich erklärte ihr meine Aufgabe und berichte, dass ich bis spät in die Nacht gearbeitet habe. „Also waren Sie derjenige, der es veranlasst hat, die Lichtschranke abzuschalten und durch eine Kette zu ersetzen?“, fragt sie. „Ja, nein, also schon“, stammele ich. „Alle sollten doch extra aufpassen, bis wir das neue Modul haben“, erkläre ich. Ich werde wieder gerufen, der Geschäftsführer ist am Telefon. „Gehen Sie schon“, sagt die Kommissarin. Mein Geschäftsführer, Herr Oswald, sonst ein sehr ruhiger Mann, herrscht mich an. „Was haben Sie denn gemacht?“ Ich versuche, die Vorgänge zu erklären, aber es kommen nur Vorwürfe von ihm. Man ruft nach mir. Die Gewerbeaufsicht ist da, ich soll kommen. Meinen Geschäftsführer höre ich noch am Telefon sagen, es müsse jemand zur Familie der Verunfallten gehen. Ihr Mann sei Postbote im Ort und die Kinder seien in der Krippe. Jemand spricht mich an: „Bitte beenden Sie das Telefonat. Lachmeyer, Gewerbeaufsicht Köln.“ Ich entgegne: „Aber ich muss doch…“ Er sagt: „Auf meine Fragen antworten, das müssen Sie jetzt!“ Ich stammele: „Ja, aber…“

Unserer Sekretärin Frau Kleinschmidt, die sich immer um alles kümmert, kommt eilig in die Halle gelaufen und sagt: „Das Krankenhaus hat angerufen, die Verunfallte, Frau Sels, ist auf dem Transport verstorben.“

Der Herr von der Gewerbeaufsicht sagt: „Jetzt ist es ein tödlicher Arbeitsunfall, na ja.“

„Also Herr“, er schaut auf meinen Personalausweis, „Klangkowski. Was ist hier geschehen? Bitte schildern Sie alles der Reihe nach. Sie waren gestern hier in der Mittagschicht und haben veranlasst, dass…“ Ich unterbreche ihn: „Ich muss zur Familie der Kollegin, jemand muss doch die schlimme Nachricht überbringen.“ „Richtig“, antwortet er. „Jemand. Also schicken Sie einen verantwortlichen Kollegen“. Ich sage ihm: „Ich bin doch nur Projektleiter hier, ich weiß doch nicht, wen.“ Frau Kleinschmidt ruft: „Vielleicht unseren Meister?“ Herr Janosch, der Meister, ruft: „Ja, ich fahre zum Ehemann und hole mit ihm die Kinder aus der Krippe.“ Der Herr von der Gewerbeaufsicht beginnt noch einmal: „Herr Klagkowski, nun mal zur Sache, schließlich handelt es sich hier um einen tödlichen Arbeitsunfall! Sie haben gestern in der Mittagschicht veranlasst, dass am Kettenförderer die Lichtschranke ausgebaut und durch eine Kette ersetzt wird.“ Ich erkläre: „Ja, die Lichtschranke war defekt und früher hat man immer eine Kette benutzt und es ist nichts passiert.“ „Hier nicht“, höre ich eine raue eindringliche Stimme hinter mir, „in anderen Betrieben schon, deshalb habe ich angeordnet, eine Lichtschranke einzubauen und Sie bauen diese einfach aus.“ Ich versuche mich zu erklären: „Doch aber nur, weil…“ Der Herr mit der rauen Stimme stellt sich vor: „Dr. Jangkowski von der  Berufsgenossenschaft Holz-Metall“, und fragt weiter: „Was ist hier vorgefallen? Sind Sie der Verantwortliche? Gibt es Verletzte? Wenn ja, wie viele? Gibt es Zeugen? Gibt es traumatisierte Kollegen und wo befinden sie sich jetzt?“

Ich kann gar nicht mehr so schnell reden, um alle Fragen zu beantworten. Eine junge Frau kommt auf mich zu, Frau Berg von der Staatsanwaltschaft Köln: „Sie sind Herr Klangkowski?“ „Ja.“ Sie sagt: „Herr Klangkowski, ich setze Sie hiermit davon in Kenntnis, dass gegen Sie ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung eröffnet wurde und alles, was Sie von jetzt an aussagen, gegen Sie verwendet werden kann. Sie müssen aber nicht aussagen, wenn Sie sich damit selbst belasten. Nur, wenn Sie aussagen, muss es die Wahrheit sein.“ Mir ist es, als haut es mir die Beine weg, ich setze mich auf einen Maschinensockel hinter mir. „Sie sollten sich um einen Anwalt bemühen, halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung“, sagt sie.

„Her Klangkowski!“, ruft es. „Ihre Frau ist am Telefon“, ich ringe nach Luft und rufe: „Später, ich rufe zurück!“. Ich könnte jetzt sowieso nichts mehr erklären.

„Herr Klangkowski, ich habe Sie etwas gefragt“, sagt der Herr von der Berufsgenossenschaft zu mir. Ich wusste gar nicht mehr, wer was gefragt hat. Es ist wie ein Kreuzverhör im schlimmsten Film. „Herr Klangkowski, es ist Ihre Pflicht, uns bei den Untersuchungen zu unterstützen, Sie sollten sich bewusst sein, dass es hier auch um Regress geht. Oder denken Sie, die vielen BG-Mitglieder, die täglich pflichtgemäß arbeiten, übernehmen für Sie hunderttausende Euro an Kosten? Wohl kaum, dafür werde ich sorgen! Sie werden sich für Ihr Verhalten verantworten müssen. Sicherheitseinrichtungen abschalten, Menschenleben aufs Spiel setzen, nur um noch mehr Profit zu machen.“ Ich denke: „Ich? Wegen Geld Menschenleben aufs Spiel setzen? Das würde ich doch nie tun. Was ist hier nur los?“

Ich rufe: „Ich sage nichts mehr!“ 14:30 Uhr gebe ich die Anweisung, die Mittagschicht solle nach Hause gehen. Hier läuft ja heute nichts mehr. Und denke: „Und morgen? Ach, da bekommen sie Bescheid.“

Inzwischen hat sich das Krisen-Interventionsteam der Berufsgenossenschaft zum Glück um die Frühschicht im Speisesaal gekümmert. Ich überlege: „Sieben Kollegen, die durch den Anblick von Blut und dem Hall der schreienden jungen Kollegin, die jetzt tot ist, traumatisiert sind. Alle mit den Gedanken beim Ehemann und seinen zwei Kinder von einem und zweieinhalb Jahren - alle kennen sich doch hier im Ort.“

„Die Beschäftigten hätten aus der Halle gemusst“, so der Herr von der Gewerbeaufsicht, „so etwas kann ja niemand aushalten. Jetzt haben wir eine Tote und sieben weitere Verunfallte an einem einzigen Tag. Das hätte ein Notfallplan alles verhindern können!“ Aus dem Hintergrund ruft es: „Das haben wir alles!“ Es ist der Geschäftsführer, der seine Dienstreise abgebrochen hat. „Wir haben auch eine externe Sicherheitsfachkraft, die sich um den Arbeitsschutz kümmert, haben wir doch alles.“

Herr Lachmeyer von der Gewerbeaufsicht fragt mich noch nach der Gefährdungsbeurteilung, da spricht mich meine Frau an, die mich da sitzen sieht und sagt: „Dein Hausarzt hat noch Sprechstunde, da musst du jetzt hin und nichts weiter. Sie sehen doch, dass er nicht mehr kann!“ Mein Geschäftsführer sagt: „Gehen Sie.“ „Aber Sie halten sich zu unserer Verfügung“, ruft noch irgendeine Stimme hinterher.

Seit dem bin ich krankgeschrieben, blieb aber in meinem kleinen Zimmer, um wenigstens erreichbar zu sein. Drei Tage nach dem Unfall kündigte sich der Hausanwalt der Firma an. Ich wurde gebeten, zunächst nicht in die Firma zu kommen, die Stimmung sei schlecht und man stehe wohl kurz vor der Insolvenz. Das mit der schlechten Stimmung hatte ich schon beim Einkaufen zu spüren bekommen, arbeitete doch der halbe Ort in der Firma. Überall wehte mir ein kalter Wind entgegen und am liebsten hätte man mir nichts verkauft.

Der Anwalt, ich dachte er ist als Hilfe gekommen, hatte nur Vorwürfe. Im Schichtbuch hatte wohl keiner meine Sicherheitshinweise gelesen. Der Meister war am Morgen des Unfalltages damit beschäftigt, eine Aushilfe für einen erkrankten Kollegen zu finden.

Vom Geschäftsführer bekam ich die Information, ich solle mich bitte am kommenden Tag um 10:00 Uhr in meinem Zimmer bereithalten. Der Unfall müsste jetzt untersucht werden. Der Geschäftsführer sagte, hat wohl jemand von einem Unfallzentrum, namens uABZ oder so ähnlich, gefunden, der das Ereignis aufarbeiten soll. Der Geschäftsführer sagte auch, er kenne mich als einen verantwortungsvollen Mitarbeiter und kann sich nicht erklären, wie es zu diesem Ereignis kommen konnte.

Am nächsten Tag stellte sich ein Herr als leitender Sachverständiger des unabhängigen Arbeitsunfall-Beratungs-Zentrums aus Halle (Saale) bei mir vor und sagte freundlich: „Das Geschehene können wir nicht zurückdrehen, aber wir sorgen dafür, dass das Leben weiter geht. Zunächst müssen wir aber gemeinsam jedes Detail aufarbeiten, denn Unfälle geschehen nicht einfach so, sie haben Ursachen, die meist schon Wochen und Monate zuvor gesetzt werden.“

Er stellte mir u.a. Fragen zu meinem Masterabschluss vor zwei Jahren und meinem Arbeitsbeginn in der Firma. Ich erzählte vom Studium und meiner Frau, die nach dem Studium als Projektleiterin an der Uni eine Anstellung gefunden hat. Weiter erzählte ich: „Ich hing zunächst in der Luft und habe Angebote durchforstet. Dann fand ich ein Angebot ganz in der Nähe, als Projektleiter, in einer kleinen Firma. Dort stellte ich mich vor und man sagte mir, dass ich gut passen würde. Aber einen Wehrmutstropfen gab es doch noch - für viele Monate würde ich in der Mittagschicht arbeiten.“

Ich redete von dem enormen Druck, den wir jeden Tag hatten, um die Anlage bis 22:00 Uhr wieder betriebsbereit zu haben, damit die Frühschicht arbeiten kann. Immer zu planen, wie viele Leute habe ich, wer ist im Urlaub oder krank, welche Teile werden gebraucht? Was können wir morgen schaffen, sind wir noch im Plan? Dann der plötzliche Weggang des Produktionsleiters, ohne dass Ersatz kam. Ich glaube, ich habe drei Stunden nur geredet.

Dann eine Reaktion des Sachverständigen des uABZ: „Wir hauen Sie da raus, das ist nicht Ihr Versagen.“

Am Nachmittag kam meine Frau und wir redeten über das Gespräch mit dem uABZ. Ich sprach von dem „wir hauen Sie da raus“ und dass ich nun wieder Licht sehen würde. Wir tauschten uns auch über den Arbeitsschutz an der Uni aus. Sie war bei ihrem Projekt von Anfang an mit dabei - vom Planen, dem Gießen der Fundamente bis zur Maschinenaufstellung. Es ging um Schwingungsdämpfung an großen Motoren. Wir sprachen von Gefährdungsbeurteilungen ihres Projektes und ihrem Gespräch mit der externen Sicherheitsfachkraft dazu. Ein ergebnisloses Gespräch, so ihre Meinung. Sie sagte: „Die Kritik zur Gefährdungsbeurteilung, die keinen Bezug zum Projekt hatte, blitzte an ihm nur so ab.“ Nach ihrer Beschwerde gab es zwar eine Überarbeitung, jedoch immer noch keine relevanten Inhalte zu den Gefährdungen bei ständiger Steigerung der Drehzahlen. Die externe Sicherheitsfachkraft hatte nicht mit ihr gesprochen und sich die Inhalte immer nur zusammengereimt.

Ich sagte: „Fast wie unsere Sicherheitsfachkraft, die habe ich auch kaum gesehen und gesprochen hat sie nie mit mir.“ Ich erzählte ihr, wie es nun weiter gehen sollte. So wollte der uABZ-Sachverständige zunächst mit den Leuten von der Unfallschicht sprechen, doch einige seien noch immer krankgeschrieben.

Mein Plan war es, im Ort zu bleiben, auch wenn man es mir hier nicht leicht machte. Ganz so, als hätte ich die junge Frau auf dem Gewissen. Mit mir hat das alles viel gemacht: Immer, wenn ich mein Zimmer verlassen wollte, musste ich schon zwanghaft schauen, ob ich alles ausgeschaltet habe. Die Kochplatte, den Heizlüfter, das Licht. Ich hatte mich sogar entschlossen, alle Stecker zu ziehen. Trotzdem ging ich vor dem Türverschließen noch einmal zurück und kontrollierte alles. War niemand im Treppenhaus, ging ich eilig zur Tür zurück, um zu prüfen, ob ich richtig abgeschlossen hatte. Meine Frau riet mir: „Du musst hier weg, du brauchst ein anderes Umfeld!“

Am nächsten Tag vereinbarte ich mit dem uABZ einen kurzfristigen  Gesprächstermin in deren Geschäftsräumen. Alles schien unkompliziert und machte mir Hoffnung. Der Sachverständige des uABZ sagte mir, dass ich keinen Anwalt bräuchte. Anwälte gäbe es auch beim uABZ und falls ich Behördenpost bekomme, solle ich mich melden, um eine Strategie zu erarbeiten. Ich solle nicht zum Buhmann für alles werden, denn nach ersten Erkenntnissen lägen fatale Fehler im Führungsverhalten der Betriebsleitung vor, so der Sachverständige. Auch, dass die vorliegenden Gefährdungsbeurteilungen nur Fragmente seien und keine Maßnahmen zur Projektarbeit beinhalten, ließ er mich wissen. In erster Linie sei dies eine Führungsaufgabe der Geschäftsführung, „aber dazu kommen wir nach der Aufarbeitung und der Unfalluntersuchung durch das uABZ“, sagte er. „Parallel dazu wird auch eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen durchgeführt, die es nämlich in der Firma auch nicht gibt, die aber jetzt nach dem Unfall und den Traumatisierungen erst recht notwendig ist.“ Auch einen Notfallplan für „Traumatisierende Ereignisse“ wolle man erstellen. Alles Dinge, die schon seit Jahren per Gesetz gefordert werden und vieles hätten verhindern können. Den Unfall, das Durcheinander danach, die schwere Traumatisierung der Kollegen, die das Geschehene wohl nie wieder aus ihrem Kopf bekommen werden. Auch ich kann beim Gedanken daran die Tränen nicht zurückhalten.

Am Nachmittag fuhr ich nach Hause. Meine Frau war schon aus der Uni zurück und begrüßte mich herzlich: „Na, komm erst mal rein“, es duftete nach meinem Lieblingsessen und alles schien so heimisch, anders als mein karges Zimmer, das ich am liebsten nie wiedersehen wollte.

Ich erzählte ihr von den Gesprächen mit dem uABZ, den Erkenntnissen, was im Betrieb an Dokumenten alles fehlte und was vielleicht alles verhindern hätte können.

Sie sagte: „Davon haben wir auch vieles nicht an der Uni.“ Aber sie habe jetzt veranlasst, dass der Prüfstand mit einer Anlaufwarnung ausgestattet wird und sich niemand in der Halle aufhalten darf, während die Rundumleuchten in Gang sind. Auch ein Not-Aus außerhalb der Halle wurde im Messraum installiert. Es wurden Sicherheitsbeauftragte benannt, die demnächst zur Berufsgenossenschaft zur Schulung fahren und sie dann unmittelbar unterstützen können. Auch habe sich die Uni von der externen Sicherheitskraft getrennt und es wurde jemand als Sicherheitsingenieur eingestellt, der alles überarbeiten soll. So wurde auch schon eine Beurteilung der psychischen Gefährdungen bei der Projektarbeit beim uABZ in Auftrag gegeben. Allen sei jetzt bewusster geworden, dass Anzeichen von Überlastung und sogar von Mobbing gar nicht wahrgenommen wurden.

Mein Handy klingelte, ein Anruf vom uABZ-Sachverständigen. „Hallo Herr Klangkowski, guten Abend, ich habe eine gute Nachricht für Sie: Das uABZ konnte vieles klarstellen und die Staatsanwaltschaft hat das Strafverfahren gegen Sie eingestellt!“ sagte er.

„Auch die Berufsgenossenschaft spricht nicht mehr von Regress.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen, jetzt kann es einen Neuanfang für mich geben. Wir hatten beide Tränen in den Augen.

Für mich ist klar, in diesen Betrieb gehe ich nicht wieder zurück und ich werde nie wieder in einem Betrieb arbeiten, der die Sicherheitsvorschriften nicht eindeutig regelt bzw. mein künftig noch engagierteres Sicherheitsverhalten nicht annimmt.

Aber ich weiß auch, dass ich Fehler gemacht habe und die Produktion zu sehr im Vordergrund sah.

Es wäre meine Aufgabe gewesen, schon frühzeitiger um Hilfe zu bitten und nicht mit Überstunden alles wettmachen zu wollen. Auch hätte ich die sicherere Option wählen müssen und die Produktion erst gestatten dürfen, wenn die Lichtschranke funktionsfähig ist.

Auch das Fehlverhalten der jungen Kollegin, die, wie sich später herausstellte, bei laufendem Kettenförderer die Absperrkette entfernte, um ein gefallenes Teil auf die Anlage zu legen, kann mich nicht beruhigen. Hatte sie doch, genauso wie ich, den Produktionsfortlauf im Blick, anstatt den Förderer anzuhalten. Sie bezahlte es mit dem Leben und ich mit einer ewigen Schuld.

Später bekam ich noch ein Schreiben von der Gewerbeaufsicht. Es war eine Bußgeldforderung von 500 Euro mit dem Wortlaut, dass ich gegen das Arbeitsschutzgesetz sowie die Betriebssicherheitsverordnung verstoßen habe, weil ich die selbstwirkende Sicherheitseinrichtung durch lediglich eine Sicherheitskette ersetzt habe, welche ihrer Funktion nicht gerecht wurde.

Diese Bußgeldforderung sei umstritten, sagte der Sachverständige des uABZ, aber sicherlich kein Grund zum Klagen. Das will ich auch nicht, weil ich mich ja doch moralisch verantwortlich fühle.

Außerdem erreichte mich noch Post vom Anwalt, der den Ehemann der Verunfallten vertritt. Der Kläger verlangt von mir Schmerzensgeld und den Ersatz weiterer materieller Schäden. Ja, mir ist klar: Wie soll der Ehemann denn jetzt alleine mit zwei kleinen Kindern zurechtkommen? Ich denke: „Ich muss irgendwie helfen! Aber um welche Beträge geht es? Meine Frau und ich wollen uns doch auch eine Existenz aufbauen. Was habe ich nur getan?“

Erneut setze mich sofort mit dem uABZ in Verbindung. Der Sachverständige ist gerade zu einer Befragung im Betrieb, aber seine Vorgesetzte gibt mir Auskunft und sagt: „Machen Sie sich keine Sorgen, dafür hat der Betrieb doch Beiträge an die Berufsgenossenschaft gezahlt und darüber werden die Kosten der Familie jetzt beglichen. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld gegen den Arbeitgeber oder Sie kommt nur bei so genanntem »doppeltem Vorsatz« in Betracht. Das heißt, Unternehmen sind gegenüber den bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmern zum Ersatz von Personenschäden nur dann verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall, also den Unfall, vorsätzlich herbeigeführt haben oder wenn sie den Unfall selbst verursacht haben.“ Weiter sagt sie: „Im vorliegenden Fall, zahlt die Berufsgenossenschaft an den Ehemann und für die Kinder Waisenrente bis zu einem Betrag von 80% des Jahresverdienstes der Ehefrau. Hinzu kommen Sterbegeld und Überführungskosten. Sicher ist unendliches Leid geschehen, aber Sie müssen jetzt auch an sich und Ihre junge Familie denken.“

Ich denke: „Schon richtig, ach, wäre das alles doch nur nicht geschehen!“

Zurück nach oben
logo-uabz
Facebook-Icon Instagram-Icon whatsapp-logo xing-logo linkedin logo youtube logo google logo

unabhängiges Arbeitsunfall-Beratungs-Zentrum
Hüsenbergweg 13
31228 Peine

Telefon: 05 171 76 911 88
Mobil: 0 177 5972 689
(Claudia Reusche)

Mobil: 0 151 237 592 48
(Dietmar Wodtke)
E-Mail: claudia.reusche@fasiuabz.de
E-Mail: dietmar.wodtke@fasiuabz.de